Fluchtversuche
Hans Beimler
Der
populäre kommunistische Reichstagsabgeordnete Hans
Beimler wurde am 25. April 1933 in das Dachauer
Konzentrationslager eingeliefert und zusammen mit
dem Polizeihauptmann Herbert Hunglinger sofort in
den Bunker eingesperrt. Jeder erhielt zum „eigenen
Gebrauch“ einen Galgenstrick, den er an dem
Wasserhahn der Spülvorrichtung
befestigen musste. Später wurde jedem noch
ein Messer ausgehändigt mit der Belehrung, es
sei nicht zum Brotschneiden gedacht. Beimler
beschreibt in eindringlichen Worten die
furchtbaren Tage, die er unter Misshandlungen und
Erniedrigungen im Bunker verbrachte.
Noch furchtbarer waren die Nächte, in denen eine Gruppe von SS-Männern die Häftlinge in unmenschlicher und raffinierter Weise quälte.Die SS-Männer drohten den Gefangenen, sie würden noch mehr gequält werden, wenn sie nicht bis zum nächsten Morgen Selbstmord begingen. Hauptmann Hunglinger brach unter diesem Druck zusammen und erhängte sich schon am nächsten Tag. Den übrigen „Feiglingen“ wurde er dann als Vorbild hingestellt.
Am 7. Mai schnitt sich der Abgeordnete Fritz Dressei angeblich die Pulsadern auf. Durch ein Versehen wurde er aufs Revier gebracht und dort behandelt, doch Wäckerle ordnete an, Dressei in den Bunker zurückzubringen; dort rissen ihm die SS-Männer den Verband ab und ließen ihn verbluten. Am folgenden Tag wurde Beimler zu Dressei geführt, um sich an seinem „Freund“, der einen „stärkeren Charakter besaß“, ein Beispiel zu nehmen und zu begreifen, wie man es mache. Beimler wurde ein Ultimatum gestellt: Sollte er sich nicht bis zum Morgen des 9. Mai umbringen, würden ihn die SS-Männer töten. Beimler hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine Flucht vorbereitet und am Fenster eines der Bretter gelockert.
Er glaubte nicht daran, dass ihm die Flucht gelingen würde, doch ehe er von den SS-Männern erwürgt werden würde, wollte er lieber auf der Flucht durch eine Gewehrkugel sterben. Und entgegen aller Erwartungen glückte die Flucht. Beimler gelangte ins Ausland, und wenig später wurde sein erschütternder Erlebnisbericht publiziert, der in der Weltöffentlichkeit eine Welle der Empörung auslöste. Das Buch „Im Mörderlager Dachau“ erschien in mehreren Sprachen.Der Name „Dachau“ wurde im Ausland zu einem unheilverkündenden Begriff.
Einige Details der Flucht Beimlers hat seine Frau Centa klären können, die mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte. Bei der Flucht half Beimler sein reund Fritz Kirchner, der als Häftling in der Nähe des Bunkers arbeitete. Dieser besorgte ihm Werkzeug zum Abschrauben des Gitters vor dem Fenster und eine Blechschere zum Durchschneiden des Stacheldrahts; beides hat er Beimler offenbar durch eine Öffnung in dem Bretterverschlag, die Beimler erwähnt, zugesteckt. Über den mittleren, elektrisch geladenen Zaun warf Beimler ein Brett, das er gefunden hatte, und stieg auf diesem über den Drahtverhau. Am 11. Mai gab der deutsche Rundfunk bekannt, dass Sepp Götz, Beimlers letzter Mithäftling im Bunker, einen Aufseher angefallen habe und von diesem in Notwehr erschossen worden sei
Die Lagerleitung setzte 100 RM Belohnung für Informationen zur Ergreifung Beimlers aus. Mehrere Personen, die im Verdacht standen, Beimler geholfen zu haben, wurden in das Lager eingeliefert und von den SS-Leuten brutalen Verhören unterzogen. In dem Buch „Nazi Bastille Dachau“, das 1939 in Paris erschien, finden wir darüber den Bericht eines Betroffenen. Dieser wurde in die Zelle Beimlers gesteckt; sie war völlig blutverschmiert, und die Pritsche klebte geradezu vor Blut.
Bei den Verhören wurde der Mann grausam gequält. Während ihm eine Pistole ins Genick gestoßen wurde, musste er bis drei zählen. Dann wieder versprach man ihm 100-500 RM Belohnung, wenn er Beimlers Aufenthaltsort verrate. Mit einem Strick um den Hals wurde er durch das Lager gejagt, die SS-Männer drückten ihn unterWasser, holten ihn kurz vordem Ertrinken wieder heraus und verscharrten ihn in eine Grube. Als der Mann darum bat, man möge ihn erschießen, bekam er zur Antwort, in Dachau sterbe man nicht so schnell. Schließlich gaben ihm seine Peiniger etwas zu trinken; danach sagten sie ihm, in dem Getränk sei Gift gewesen, das innerhalb von sechs Stunden tödlich wirke. Dann erhielt er Papier und Bleistift, und es wurde ihm erklärt, wenn er innerhalb von zwei Stunden ein Geständnis ablege, bekomme er ein Gegengift.
Ähnlich verfuhr man auch mit den anderen Verhafteten. Nach der Beendigung des Verhörs lag unser Zeuge halbtot auf dem Revier, in unmittelbarer Nähe des Bunkers. Im gleichen Zustand lagen dort einige von denen, die derselben Tortur ausgesetzt worden waren. Ob sie wollten oder nicht, sie hörten, was im Bunker vor sich ging. In dem Bericht heißt es: „Hielt man sich die Ohren zu, man hörte die Schläge. Schreien konnten die Geprügelten nicht, da ihnen um den Kopf eine Decke gewickelt wurde. Ob man wollte oder nicht, man zählte die klatschenden Schläge mit. Viele wurden in diesen Tagen gemordet. Die Schläger waren meistens 4 oder 5 SS-Leute: Lutz, Kantschuster, Steinbrenner, Hoffmann und Wickelmeier. Sie schlugen so lange, bis sie nicht mehr konnten oder bis das Opfer tot war."
Hans Beimler nahm später an den Kämpfen in Spanien teil und fiel am 1. Dezember 1936 bei der Verteidigung Madrids.
Seinen Aufsehen erregenden Bericht »Im Mörderlager Dachau. Vier Wochen in den Händen der braunen Banditen«, den er nach seiner Flucht 1993 veröffentlichte, finden Sie hier.
Quelle: Stanislav Zamecnik, Das war Dachau, Luxemburg 2002, S.30-32
Die Schreckensnacht von Dachau
Last Name: | ÜBRIG |
First Name: | Louis |
Birth Day: | 22 |
Birth Month: | Apr |
Birth Year: | 1907 |
Birth Place: | St. Gallen |
Residence (town): | St. Gallen |
Residence (street): | Buchst. 24 |
Prisoner Number: | 32015 |
Date of Arrival: | zug. 17 Jan 1939 |
Disposition: | gest. 11 Feb 1939 |
23. Jänner 1939, ein nasskalter Tag. Schneeflocken
haften an unseren müden Augenlidern, während wir
im gleichbleibenden Trott Zementsäcke schleppen.
Es ist später Nachmittag, wir können bald ins
Lager marschieren, dann werden wir das Essen
hinunterschlingen, um wieder zu Kräften zu kommen
und zerschlagen auf das Lager sinken. Plötzlich
ist eine ungewohnte Aufregung unter den
Wachtposten. Sie schreien sich etwas zu, dann
rufen sie zu uns herüber. Ich verstehe nicht
gleich, da reißt mich jemand zu Boden. ,Alarm!‘
höre ich jetzt aus nächster Nähe schreien, „alles
mit ausgestreckten Armen hinwerfen!“ Gleichzeitig
fallen Schüsse. Ein SS.-Blockführer knallt mit
seiner Pistole in unsere Richtung. Einer schreit
auf, er ist an der Schulter getroffen; ein zweiter
macht eine seltsame Kopfdrehung. Ich selbst liege
auf den Schienen einer Feldbahn und bin froh, daß
ich in diesem Augenblick nicht mit meinen Kleidern
in dem eisigen Schneewasser stecke, wie so mancher
andere Häftling. ,,Sicher ist einer abgehauen“,
meint Frey. „Wer mag es bloß sein?“ — Wir haben
mehr Zeit zu raten, als uns lieb ist. Fast eine
Stunde müssen wir liegenbleiben, dann kommt ein
Befehl: ,,Aufstehen, abzählen!“
Einer fehlt! - Es ist Übrig, ein Deutschschweizer.
,,Er will übrigbleiben“, grinst mir Frey leise zu, doch dann vergeht selbst ihm der Humor. Wir bekommen Drohungen zu hören, daß uns in der Kälte ganz warm wird. - Einige Minuten später ist der Lagerkommandant da. Er diskutiert eifrig mit den Blockführern und kommt dann zu uns. ,,Ihr werdet mir alle für den einen büßen!“ schreit er krebsrot vor Zorn. Unter Schlägen und Flüchen werden wir ins Lager getrieben. Zurück bleibt jener, den ich die seltsame Kopfbewegung machen sah; die Pistolenkugel hat ihm den Schädel durchlöchert. — Die SS ist in einem mordlustigen Zustand. Sie hat die Umgebung des Arbeitsplatzes vergeblich abgesucht. Selbst die dressierten Hunde haben Übrig nicht aufgestöbert; er scheint seinem Namen alle Ehre zu machen. — Obwohl wir jetzt Schlimmes befürchten müssen, bin ich mit guten Gedanken bei dem Flüchtigen. Als wir durch das Lagertor marschieren, stehen bereits alle Häftlinge auf dem Appellplatz. Sie haben keine Ahnung, was geschehen ist, fühlen jedoch, daß bei den Außenkommandos etwas nicht stimmt. Erwartungsvoll sehen sie uns jetzt entgegen. Schweigend reihen wir uns ein. Die Blockführer bekommen ihre Meldungen und geben sie an den Lagerkommandanten weiter. Der Zählappell ist damit beendet. Aber das sonst selbstverständlich folgende Kommando: ,,Blockweise einrücken!“ kommt nicht. Wir stehen weiter im Stillgestanden, die Finger an der Hosennaht, die Knie durchgedrückt, den Blick geradeaus! Die SS.-Blockführer umschleichen uns, hier und da treten sie einem ins Kreuz, wenn er nicht stramm steht. Wir Isolierte wissen ja, was los ist, die anderen haben es nun auch bald heraus. Die Wut unserer Peiniger ist zu offensichtlich, sie entladen sich in wüsten Flüchen und Drohungen. Sie wollen uns die ganze Nacht über stehen lassen! Nun, denken wir verbissen, ihr werdet uns bewachen und bekommt damit auch euer Teil! In lastendem Schweigen steht der ungeheure Block tausender Menschen auf dem Appellplatz. Die Dämmerung ist der Dunkelheit gewichen. Wie grelle, lange Finger tasten die Scheinwerfer von den Türmen über uns hinweg, leuchten gegen die Baracken und Kasernen, huschen über das riesige Ziffernblatt der Uhr am Lagertor. Unendlich langsam rücken die Zeiger vorwärts. Um 11 Uhr setzt starker Schneefall ein. Wir müssen die Mützen abnehmen. Die noch einen Mantel tragen, müssen ihn ausziehen und vor sich hinlegen. Der nasse Schnee, der in dicken Flocken niedergeht, schmilzt auf unseren Köpfen und rinnt den Hals entlang unter die völlig durchfeuchteten Kleider. Mich schützt mein braver Zementsack, der mich enggeschlossen einhüllt und trocken halt. Keiner wagt auszutreten, um seine Notdurft zu verrichten. Keiner darf sich den Schnee aus den brennenden Augen wischen. Unsere Gesichter, unsere Hände werden langsam zu Eis. Ich spüre die Kälte an mir heraufkriechen, von den Zehen zu den Schenkeln, von dort zum Herzen. Ich bin auf einmal so müde, so unsagbar müde. Das beste, ich lasse mich zu Boden gleiten und schlafe. Dann ist es aus und überstanden. Ich habe keinen Willen mehr, nur den einen Wunsch, zu schlafen, auszuruhen. Mir ist alles andere furchtbar gleichgültig. Schon. sacke ich in den Knien etwas ein, da bekomme ich einen Stoß von links, der mich beinahe umwirft. ,,Los, Schulterrollen!“ Es ist Ringer, der mir Mut machen will. Der SS-Blockführer hat sich so weit entfernt, daß wir uns tatsächlich ungefährdet Bewegung verschaffen können. Wir rollen die Schultern und reiben Arme und Hände. Langsam fließt das Blut durch die erstarrten Glieder, die wir nun wieder spüren. Nach Mitternacht geht immer häufiger ein leises Stöhnen und Seufzen durch die dichten Reihen. Dort kippt einer lautlos vornüber in den Schnee, hier wimmert jemand verzweifelt; er wehrt sich wohl noch gegen die Gewalt, die ihn in den todbringenden Schnee zwingt, und weiß doch schon, daß er sich in den nächsten Minuten zum ewigen Schlaf hineinbetten wird. Wer sich niederlegt, bekommt einen Kolbenstoß und darf liegenbleiben; wer stirbt, kann nicht mehr entfliehen! Aus den Reihen der Bibelforscher kommt ein, Murmeln, wie von einem Gebet. Ob Gott sie anhört?
Von uns ist bisher nur Huber umgefallen. An der Art, wie er zu Boden gleitet, erkenne ich, daß er sich ausruhen will. Ich weiß auch, daß er ebenfalls einen Zementsack trägt, der ihn vor der schlimmsten Nässe schützt. Leise sage ich zu Ringer: „Ich kann es einfach nicht glauben, daß man uns bis zum Morgen stehen läßt.“ Ringer ist weniger optimistisch. ,,Ihre Wut ist zu groß“, meint er, ,,sie werden es darauf ankommen lassen!“
Sie lassen es darauf ankommen! Wir stehen bis zum Morgengrauen und können es nie vergessen! Eine solche Nacht in durchnäßten Kleidern, wenn man im voraus geschwächt ist durch Hunger und Müdigkeit, gehört wohl zum Schwersten, was ein Mensch erleben kann. Um 5 Uhr früh dürfen die zum Küchenpersonal gehörenden Häftlinge wegtreten. Neidisch blicken wir Übrigbleibenden hinterher. Zwei weitere Stunden, bis 7 Uhr, müssen wir noch stehen, dann ertönt das erlösende Kommando: ,,Blockweise einrücken!“ Endlich! Wir bücken uns zu den Gefallenen, und wo wir noch Leben spüren, heben wir sie auf und schleppen sie zu den Blocks. Jeder Schritt dabei verursacht einen Stich durch unsere erstarrten Körper. Wir kommen an den Judenblocks vorüber. Ihre Reihen sind besonders stark gelichtet. Viele kleine, verschneite Hügel, aus denen sich starre Menschenarme anklagend recken, berichten von einer Tragödie, deren Zeugen wir sind. — Viele haben sich den Todeskeim geholt und folgen bald denen, die ihre Augen in jener schreckensvollen Nacht von Dachau schlossen.
In den Isolierblocks wird sofort das Essen ausgegeben, auf das wir uns gierig stürzen. Auch unsere Mahlzeit von gestern ist noch in den Kübeln. Kartoffeln mit Brathering! Ich schlinge den Fisch mitsamt den Gräten hinunter und bin noch fest beim Kauen, als uns die Lagersirenen schon wieder zum Zählappell rufen. Danach dürfen alle Häftlinge abrücken, nur die Isolierten müssen bleiben.,,Wieder stehen!“ stöhnt Corazza. Die Nacht hat ihn furchtbar mitgenommen, er ist völlig fertig. ,,Ich wünsche mir nur, daß ich krepiere“, sagt er, ,,das könnte keinen Tag zu früh kommen.“ — So weit sind wir übrigens fast alle.
Da, ein verzweifelter Schrei! Einer von uns springt zu dem mit Hochspannung geladenen Drahtzaun. Er will Schluss machen! Aber ehe er sich in die todbringenden, erlösenden Drähte stürzen kann, knallt es zweimal kurz und trocken vom MG.-Turm. Der Verzweifelte stürzt zusammen; er wird schwer verletzt ins Revier getragen. Der MG.-Schütze wird sofort abgelöst und muß sich beim Lagerkommandanten melden. Er bekommt eine Belobigung.Wir stehen noch bis zum Mittag. Das Essen hat uns gestärkt, wir halten durch. Dabei hat ein kalter Wind aufgefrischt, der uns den Schnee in alle Poren jagt.
Am Nachmittag dürfen wir uns auf dem Arbeitsplatz gründlich Bewegung machen. — Im Laufschritt treibe ich die Kälte aus meinen Knochen, schwitze, keuche und fluche und fühle doch beglückt mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug, daß ich noch lebe! — Die Zementhütte ist von der SS. durchwühlt worden. Sie haben bei ihrer Suche alles umgekrempelt und unser Versteck zwischen den Zementsäcken entdeckt. Ein hellsichtiger Posten gibt mir dafür nachträglich eine Ohrfeige. Ich bin froh, daß mir nichts Schlimmeres passiert.
Abends diskutieren wir noch kurze Zeit über die Flucht Übrigs. Wir geben ihm trotz seines Anfangserfolges wenig Chancen. Die Macht der SS. ist groß und weit das alles umstrickende Netz der Häscher. — Dann sinken wir in einen tiefen, bleiernen Schlaf.
Einen Monat später. Es ist 10 Uhr abends, und wir liegen bereits in den Betten. Einige schlafen schon, ich bin sehr müde. Seit der Flucht des Häftlings Übrig bin ich wieder jeden Tag auf dem Arbeitsplatz und schufte wie ein Wilder. Die Arbeitsweise ist soweit möglich — noch verschärft worden. Es war nicht bei der Drohung des Lagerkommandanten geblieben, das ganze Lager hatte die Flucht Übrigs abgebüßt. Wehe, wenn sie ihn selbst fingen! Ich kann nicht schlafen, immer wieder schiebt sich das Bild des Flüchtenden vor mein geistiges Auge. Ich sehe ihn verkleidet und scheu durch die Grenzpässe meiner Bergheimat schlei-chen. Wenn ihm der Sprung in die Freiheit glückt, soll es mir ein Zeichen sein! –
Da werde ich aus meinen Gedanken durch den Heulton der Lagersirene aufgeschreckt. ,,Alarm!“ Wir springen aus den Betten und fahren in unsere Kleider. Draußen liegt der Appellplatz im grellen Licht der Scheinwerfer. Mit dem dumpfen Dröhnen zehntausender Marschschritte rücken die Blocks aus dem Dunkel der Lagergassen auf den lichtumflossenen Platz. Dort stehen bereits sämtliche SS-Führer des Lagers in blitzenden Uniformen und in aufgeräumter Stimmung. Sie blicken häufig zum Lagertor, als erwarteten sie ein besonderes Ereignis. Eine Stunde stehen wir in dumpfer Ungewißheit, dann ist Bewegung dort vorne. Die Scheinwerfer richten ihre Strahlenbündel gegen das Lagertor. Dort hetzt plötzlich ein Mensch durch die Pfosten in den Lichtkegel. Man hat ihm eine große Trommel umgebunden. Mit einem dicken Schlegel schlägt er hohlklingende Wirbel aus dem Kalbsfell. Er eilt durch die Reihen der Zehntausende, als säße ihm der Tod im Nacken. Er trägt wieder die Häftlingstracht wie wir, er blickt weder links noch rechts, seine Augen sind wie irr vor Angst. Ein Alpdruck legt sich auf meine Brust, wie ein Blitz durchschießt mich die Erkenntnis, das ist doch..., ja, es ist Übrig! —
Er ist längst an uns vorbei und im Jourhaus verschwunden, aber immer noch haftet das Bild dieses hoffnungslos vom Tode Gezeichneten in mir. Nach dieser schaurigen Szene rücken die Blocks, so schweigend wie sie gekommen sind, wieder ein. Sie hat ihren Zweck erfüllt, wir wissen nun, daß ein Entkommen aus den Klauen der SS unmöglich ist.
Sie haben Übrig an der tirolisch-schweizerischen Grenze erwischt. Er bekommt noch in dieser Nacht fünfzig Peitschenhiebe. Nach zwei Tagen erfuhren wir vom Lagerläufer, daß Übrig im Bunker umgekommen ist.
Quelle: Erwin Gostner, 1000 Tage im KZ, Mannheim 1945, S64ff.
Die Hintergründe der
Inhaftierung von Louis Übrig sind unbekannt. Aus
den Quellen wissen wir lediglich, dass er von
Beruf Maler, evangelischer Konfession und nicht
verheiratet war.
(Auskunft von Albert Knoll, Archiv der
KZ-Gedenkstätte Dachau)
******
Ein österreichischer Journalist, der seine
Erinnerungen 1942 in den USA unter dem Pseudonym
Georg M. Karst veröffentlichte, erinnert sich
folgendermaßen an diese Nacht:
THE NIGHT OF JANUARY 23RD
IT WAS Monday, January 23rd. We had finished our
work and were waiting for the evening assembly in
the camp-street in front of the barracks. We had
about thirty more minutes, during which time we
were allowed to smoke.
We were not permitted to enter our rooms as yet.
We were chatting.
A strong wind was blowing and it was very cold
outside; about sixteen degrees below zero
Centigrade.
The day was almost over and the evening assembly
was not far off. Soon the entire day would be
behind us. We were smoking quietly.
Suddenly the siren began to howl, once, twice . .
. seven times. Could it be an air-raid test of the
SS? Perhaps the new sirens were being given a
test.
All of a sudden, the block-elder sped from the
camp-street into the side road, pale and
breathless. "Into the barracks," he bellowed.
"Alarm! They're going to shoot."
In a few seconds we were in our barracks, scared.
We crowded near the windows. Darkness was falling
outside, but we were forbidden to make light.
What could have happened? Revolution? An attempt
on Hitler's life.
For us both would be a catastrophe. The SS would
herd us together and mow us down.
SS men rode by wearing their steel helmets.
Other SS men raced by carrying submachine-guns.
What could all this mean?
Nothing happened momentarily and we quieted down.
At 5:45 the signal sounded for the assembly.
Twelve thousand prisoners marched to square. An
icy wind penetrated through our thin uniforms,
nipped our ears. All appeared to be normal, except
that the SS men had their steel helmets, on and
were heavily armed, including grenades. Could it
have been a mutiny?
The counting of the prisoners started at o'clock.
The searchlights were playing on us for first time
in our experience.
The state of alarm was declared in the camp - the
block-elders informed us at long last - because a
prisoner had escaped. How could that happen?
At eight o'clock we were still standing on the
assembly-square.
This was probably our punishment; By nine o'clock
this would be over, we thought.
We felt miserably cold.
It was nine o'clock now and we were still
standing. It was getting still colder.
The clock struck ten and we were on the same spot.
The entire camp must stand until the escaped
prisoner was found, our block-elder informed us.
These were the orders of Herr Cannschuster
[sic!].
The prospects did not look good to us. By eleven
o’ clock we would be in our barracks, we consoled
ourselves.
It was half-past ten, and we were almost frozen to
death. We performed our bodily functions on the
spot, since we were not allowed to step aside.
We were getting uneasy. What was this all about?
The SS men were getting furious. "Attention," they
roared.
Yet we did not give up hope that we would be
returned to our barracks by midnight.
Twelve o'clock found us in the same position.
The office of the commandant was the center of
feverish activity. Automobiles and motor-bicycles
kept on returning with patrols that had failed to
recapture the escaped prisoner.
I was standing in the very last row, and that was
a great misfortune because I had no protection
whatever against the wind which stabbed me in the
back.
It was now one o'clock in the morning.
The SS men circled us on their bicycles and beat
up those they caught making exercises to warm up.
We have been standing now for seven hours. "Gloves
and caps off!" the command came. We pulled off our
gloves and stuffed them into our pockets. Those
who were standing in the middle could take the
chance of warming up their hands in their pockets
for a few minutes, but I, in the last row, could
not do it. How would this end?
I was frozen to the marrows and could scarcely
stand erect. All of us were deadly tired. Some of
the prisoners began to sway but managed to keep
themselves erect.
We kept on hoping that we could return to the
barracks by two o'clock.
It was two o' clock now and we were still
standing, without gloves and caps, in thin
uniforms.
Shortly after two the first prisoner collapsed,
and could not get up.
At half-past two it was my neighbor - a man of
forty-five - who collapsed. I tried to help him
but was given a kick by an SS man who happened to
be there.
“Attention! The swine must get up alone."
But my neighbor had a weak heart and could not get
up even after he had been kicked in the ribs.
It was awful to see his suffering.
The clock struck three when he began to "pull out”
- rattling in the throat - indicating that he was
nearing the end. Ten minutes later he died. His
head rested sidewise in a pool of muck he had
melted. Just then an SS man passed by. He kicked
the dead man’s ribs:
"Get up!"
When he got no reaction, he turned the dead face
with the tip of his boot. Seeing the glassy he
shrugged his shoulders and went on his way.
Another SS man came that way, kicked the dead
man’s ribs:
“Get up!"
This SS man, too, turned the dead face with his
boot.
He, too, saw the glassy eyes.
"One swine less." He, too, went on his way.
In our impotent anger we could scarcely restrain
our tears. I became convinced now that I would
never see another day.
Again I was thinking of my wife and child.
The thought that the prisoners might revolt
occurred to me. Several of them collapsed, but I
determined not to weaken. At least fifty
machine-guns were directed at us. If one of us
were to run amok thousands of us might be
slaughtered. The SS was evidently waiting for just
such an incident. They were lusting for revenge,
as they were beginning to break, too.
It was now nearly four o'clock and we had given up
all hope.
Another SS man came along, the dark, handsome one,
who never beat up prisoners.
He went straight toward the dead man. "Get up!"
He, too, turned the dead man's face with the tip
of his foot, saw the glassy eyes. The prisoner's
face fell back into the pool of muck.
For one instant the SS man looked startled. Then,
stealthily, he lifted his steel helmet. He greeted
the dead man, who was a Jew at that.
Then the SS man moved on, but five minutes later
he returned.
"Take the body into the hospital," he gave us the
order. We were glad that we could move. I bent
down to get hold of the body; but I was so stiff
that absolutely no strength. I could not
straighten and was afraid I would collapse.
That would be the end of me: refusal to obey a
command.
Would the SS man draw his revolver?
He looked at me, noticed my terror-stricken eyes.
"Take your time," he said. "Get a cover," he
added.
I owe to him my life.
It was half-past four. We wanted to run into the
but all we could do was to reel there, like
drunks. We were frozen stiff.
A prisoner, attached to the hospital, received us
and told us to throw ourselves on the floor and
roll around so as to get our blood into
circulation. In five minutes we were back on the
square with the cover, placed the body on it. The
dead man was so stiff that his head and legs
remained level beyond the short cover. We were
happy with the lifeless body we were carrying
because it saved perhaps our lives.
Our fellow prisoners envied us because of the man.
What a wonderful chance this was to move around.
This was horrid, inhuman, but such is Dachau. In
the hospital we ran straight into the toilet and
from there back to the square.
The prisoner in the hospital had given us two
pieces of candy.
We have recovered our strength.
It was now half-past five, and new hope dawned
because we noticed light in the kitchen.
"Twenty minutes rest for coffee," came the order
at six in the morning. Twelve thousand men
staggered into the barracks, many of them
collapsed, and we forced the hot coffee down their
throats.
Back to the assembly-square again. It started all
over again.
It became noon. Again we were given twenty minutes
of rest. .
We staggered back into the barracks, then again to
the square.
Again we were exposed to the penetrating
cold. It was now five o'clock, and we have
been standing for twenty-three hours.
All of a sudden I noticed that the machine-gun in
the observation tower opposite to us began to fire
and a second later we heard the rattling shots. In
the twilight I saw the fire of the gun.
What had happened?
In the block of the Sudeten Germans a prisoner had
gone mad and run into the electrically charged
wire.
He was struck down on the meadow. Another
prisoner, who had run after him in order to hold
him back, was also struck down.
The excitement subsided. It was now six o'clock.
Will we have to stand through another night? I
decided that it was better to die quickly than to
perish in a pool of muck. I made up my mind to
seek death in the electrical wire.
Then, unexpectedly, the signal sounded for the
assembly.
"Protective prisoners, back to the barracks."
We managed to get back, and the barracks looked
warm and friendly - our homes. We lapped up the
hot tea and devoured the crumbs of stale bread. No
fresh bread was issued to us on this day.
Two men died in the barracks during the night.
The balance sheet of the two days was: seven
deaths on the square, 85 deaths the following day,
200 sick prisoners, many of whom died during the
next few days, about a 100 amputations of frozen
hands and legs. I slept wonderfully during the
night that followed and so did many others.
The SS men, too, had been standing twenty-four
hours, and they had two deaths and 200 cases of
sickness. That was some consolation for us.
How had the prisoner escaped? Why did the SS have
so many casualties?
The day before a machine was out of order in the
turbine-house, and a specialist was summoned from
Munich. This man - an electrician - arrived in
overalls and a short fur coat. He made the trip on
his bicycle.
In the turbine-house he was trussed up and muzzled
by two prisoners. One of them put on the
electrician's overalls and fur coat, took the
bicycle and left the camp through the gate bearing
the inscription: "Work Makes Free."
The SS men discovered the plot, found the
electrician, but failed to catch the escaped
prisoner. The commandant ordered the punishment
for the prisoner as well as the SS men. About two
thousand of them had to ford the river Amper,
which flows through Dachau. Then they had to stand
at attention in their wet uniforms, without
gloves, rifles slung over their right shoulders.
They stood attention for twenty-four hours in
front of the camp.
The treatment they gave to us in the next days was
worse than usual.
The 49 inmates of the room from which the prisoner
had escaped were given an extra penalty. They had
to carry 60 pound stones on their shoulders from
one end of the camp to the other, deposit them
there, pick them up again, and carry them back
again. This they did fully fourteen hours every
day.
On the third day their shoulders were sore and
bloody. That room had two deaths in a fortnight.
Such were the punishments at Dachau.
The epilogue occurred three weeks later.
It was ten in the evening and we were already in
bed. Suddenly the sirens sounded.
"Get upl"
What happened now? I wrapped myself into my cover
and took a piece of biscuit from my box.
In five minutes all the prisoners were in their
places, marching to the assembly-square.
Again the SS men wore their steel helmets. It was
uncanny.
Suddenly a muffled drum sounded. Drum ... drum ...
drum. Always three times.
It reminded me of medieval executions of the right
of the long knife. This was medieval, as
everything in this camp.
Could it be a nocturnal control visit? Was the
supreme head of the SS, the chief hangman Himmler,
coming to the camp?
The searchlights were groping for a spot and the
sound of the drum was approaching. Then we saw:
A bleeding prisoner, beaten half dead, staggering
toward the square. A huge drum was slung around
his neck, and he had to beat the drum. Behind him
stalked the commandant and the "rapportfuehrer"
with mocking grin. They wanted to show us that
they had the escaped prisoner again in their
hands.
The spectacle over, we were permitted to return to
the barracks. We felt as much beaten up as that
unfortunate wreck.
How did they get hold of him?
The poor man had made a very bad mistake. Instead
of trying to escape across the frontiers, he was
roaming around in Germany and committed the
inexcusable error of visiting his bride.
Naturally, she was under observation and so they
caught him.
Three days later the man was dead. They had put
him in the bunker.
He had hanged himself, it was officially
announced. We knew that they had beaten him to
death. That is the way of the Third
Reich.
Quelle: Georg M. Karst, The Beasts of the Earth, Albert Unger, New York 1942, p.139-152.
***************
Adam Kozlowiecki berichtet von einem ähnlichen Vorfall im Juni 1941:
Dachau, 8. Juni 1941
Vor einigen Tagen geschah es zum ersten Mal, seit
ich in Dachau bin, dass ein Häftling floh. Das war
ein junger Pole, der auf der Plantage arbeitete.
Bemerkt wurde sein Fehlen erst während des
Abendappells. Wir standen zuerst auf dem Platz und
danach bis 22 Uhr auf der Lagerstraße. Schließlich
wurden wir schlafen geschickt.
Heute wurde der unweit von Dachau gefasste Flüchtling zurückgebracht. Er hatte am Morgen bei einem Bauern angeklopft und wollte ihn um etwas zu essen bitten, aber der hatte sofort die Polizei benachrichtigt. Überhaupt ist es fast unmöglich, von hier zu fliehen, weil die umliegende Bevölkerung (wie übrigens in ganz Deutschland) jeden Flüchtling der Polizei ausliefert. In Auschwitz war das anders; es genügte, 20 km weit zu fliehen, um auf Menschen zu stoßen, die jeden Flüchtling versteckten.
Während des heutigen Abendappells fand die feierliche Wiederaufnahme des verlorenen Schäfchens statt. Nach der Abnahme des Rapports mussten wir auf dem Platz bleiben. Aus dem Bunker kam ein Zug von Leuten - an seiner Spitze der Kapo des Arbeitskommandos, aus welchem der Häftling geflohen war, der an einem Stock eine Tafel mit der Aufschrift trug: "Ich bin schon wieder da!" Ihm folgte der grün und blau geschlagene Flüchtling mit von den Schlägen angeschwollenem Gesicht, dem eine Trommel umgehängt worden war, auf der er den Takt schlagen musste: bum, bum, bum ... Hinter ihm trugen zwei Häftlinge den Prügelbock, und den Zug beschlossen der Lagerführer, der Rapportführer und einige SS- Männer, die Ochsenziemer trugen.
Diese Gruppe zog an allen Blöcken vorbei und wandte sich dann dem Bad zu. Dort wurde das Fenster geöffnet, damit unsere Ohren auch gut die Schreie des Geschlagenen vernehmen und sehen konnten, wie sie ihn schlugen. Er bekam 25 Doppelte. Obwohl ich mit solchen Fällen mittlerweile vertraut und meine ganze Sensibilität schon ziemlich abgestumpft war, kann ich einfach nicht ruhig zusehen, wenn jemand geschlagen wird. Mein Blut gerät in Wallung und meine Nerven zittern. Ich beiße die Zähne zusammen und balle die Fäuste. Und ich fühle, dass ich selbst bereit bin, diese Banditen, für die Gewalt das einzige Recht ist, zu schlagen und zu treten. Ach, wie schwer ist es, nicht zu hassen!
Nachdem ihm
"Gerechtigkeit" widerfahren war, wurde dem
Flüchtling erneut die Trommel umgehängt, und die
ganze Gruppe musste wieder an allen Blöcken
vorbeiziehen. Während der junge Pole den Takt dazu
schlug: bum, bum, bum, gingen der Lagerführer und
die SS- Männer hinter ihm her und versetzten ihm
Fußtritte.
Quelle: Adam Kozlowiecki, Not und Bedrängnis. Als
Jesuit in Auschwitz und Dachau. Lagertagebuch,
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2016
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Repressalien und Strafen für Fluchtversuche
Einige Statistiken nationalsozialistischer Provenienz erwecken den Eindruck, als seien Fluchtversuche der Häftlinge an der Tagesordnung gewesen. In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei allerdings umfiktive Angaben, insbesondere im Hinblick auf das so genannte Erschießen auf der Flucht. So wurden für Buchenwald für 1940 89 solcher Fälle registriert, für Mauthausen für das Jahr 1942 nach einer offiziellen Dokumentation 639.77
Im Dachauer Strafblock gab es stets eine Gruppe von Häftlingen, die den so genannten Fluchtpunkt trugen, eine auffällige rotweiße Zielscheibe auf der Brust, dem Rücken und an den Hosenbeinen. So wurden diejenigen gekennzeichnet, die - wie es hieß - einen Fluchtversuch unternommen hatten. Dazu reichte es, dass der Häftling ein Signal überhörte und das Antreten zum Appell oder zum Verlassen des Arbeitsplatzes verpasste, den allwöchentlichen Kahlschnitt der Haare einmal ausließ 78 oder dabei ertappt wurde, dass er nicht nach Vorschrift nur im Hemd,sondern auch in Unterhosen oder sogar in einem Teil seiner Oberbekleidung schlief. Die Folgen waren schlimm: mindestens 25 Doppelschläge mit dem Ochsenziemer, 42 Tage in einer Dunkelzelle des Bunkers, nur jeden vierten Tag warmes Essen und anschließend die Verlegung in den Strafblock, wo die Fluchtpunktträger am meisten gequält und schikaniert wurden, sofern sie nicht ohnehin auf einen so genannten Himmelfahrtstransport geschickt wurden.
Tatsächliche Fluchtversuche kamen vor dem Krieg und in den ersten Kriegsjahrennur sehr selten vor, und jeder dieser Versuche stellte für die Häftlinge eine Katastrophe dar. Wurde festgestellt, dass jemand entflohen war, mussten Himmler selbst und die Inspektion der Konzentrationslager unverzüglich per Fernschreiben benachrichtigt werden. Zugleich lief eine vorab festgelegte und eingeübte ausgedehnte Fahndungsaktion an, bei der das gesamte umliegende Gebiet abgesperrt und durchkämmt wurde. Alle Häftlinge mussten auf dem Appellplatz antreten und in Reih und Glied so lange unbeweglich stehen, bis der Entflohene gefasst wurde. In einer Reihe von Erinnerungen sind die dramatischen Ereignisse vom 23. und 24. Januar 1939 festgehalten. Aus der Kiesgrube, wo die Strafkompanie arbeitete, war ein Häftling entflohen. Alle mussten sich daraufhin mit ausgestreckten Händen auf den Boden legen, und auf jeden, der den Kopf hob, wurde geschossen. Nach einer Stunde vergeblichen Suchens mit Hilfe von Wachhunden trieben die SS-Männer das Kommando ins Lager, wo die anderen Häftlinge bereits auf dem Appellplatzangetreten waren. Bei Frost und Schneetreiben mussten alle ihre Mäntel, Handschuhe und Mützen ablegen. Regungslos hatten sie dann von Uhr bis 6 Uhr morgens auf der Stelle zu stehen, und nach einer Stunde Pause weiter bis etwa gegen 12 Uhr. Viele von ihnen fielen vor Erschöpfung und Kälte um, einige starben. Die SS-Männer schlugen, vor allem auf diejenigen, die sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten, ein - manchmal bis zum Tod der Opfer. Ein Häftling wurde erschossen, als er sich aus Verzweiflung in die elektrisch geladenen Drähte stürzen wollte.
B. Müller erinnert sich: "Langsam nahte die Mittagsstunde. Wir standen bereits schon 16 Stunden und hatten Stunden keinen Schlaf Wieder fiel einer in meiner Nähe um. Die ließ ihn unbehelligt. War sie auch schon müde geworden? Ich erwog denGedanken, ob ich mich einfach fallen ließe? Da rannte plötzlich einer von uns los, dem elektrisch geladenen Draht zu. Er hatte es satt, länger zu stehen. Er erreichte den Draht nicht, denn es bellte schon ein Maschinengewehr los. In den Beinen getroffen, stürzte der Gefangene zu Boden. Er richtete sich mit dem Oberkörper hoch, riß sein Jackett und sein Hemd auf und schrie zum Wachturm: Ihr könnt ja nicht schießen, ihr Hunde! Hier müßt ihr treffen!' Abermals bellte das MG. Der Gefangene sank hintenüber."80
Wurde der geflüchtete Häftling gefasst, benachrichtigte man Himmler ebenfalls sofort per Fernschreiben. Der Entflohene wurde einem grausamen Verhör unterzogen. Das Protokoll wurde der Inspektion der Konzentrationslager zugesandt. Stellte man fest, dass der Flüchtling etwas zum Essen oder ein Kleidungsstück entwendet oder versucht hatte, mit der Zivilbevölkerung Kontakt aufzunehmen, folgte ein an Himmler gerichteter "Exekutionsantrag".81 Nach dem Nachmittagsappell musste dann das gesamte Lager dem "Triumph" der SS beiwohnen. Eines dieser grässlichen Schauspiele, etwa vom Juni 1941, beschreibt der polnische Kardinal Kozlowiecki: "Aus dem Bunker bewegte sich ein Umzug heraus. An der Spitze der Kapo, aus dessen Gruppe der Häftling entflohen war, der eine Tafel mit der Aufschrift trug: Ich bin schon wieder da! Dahinter ging barfuß, geschwollen, der zusammengeschlagene Flüchtling mit einer Trommel, auf der er den Takt schlug. Zwei Häftlinge trugen den Bock, und dahinter gingen der Lagerführer, der Rapportführer und einige SS-Männer mit dem Ochsenziemer. Der Umzug bewegte sich um alle Blöcke herum und verschwand im Bad, dessen Fenster geöffnet wurden, damit das Schlagen zu sehen und der Gefolterte zu hören war. Er erhielt 25 Doppelschläge. Nach dem Vollzug der Strafe ging er abermals mit der Trommel um alle Blöcke herum, hinter ihm der Lagerführer und die Blockführer, die ihm Fußtritte versetzten."
Später trug der Entflohene die Tafel mit der Aufschrift selbst und die Lagerkapelle begleitete den Umzug. Die Prügelstrafe wurde entweder im Bad oder direkt auf dem Appellplatz vollzogen. Anschließend erhielt der Gefangene 42 Tage Bunker, in deren Verlauf derjenige, der tatsächlich einen Fluchtversuch unternommen hatte, in der Regel erschlagen oder nach der Erledigung des Exekutionsantrages erhängt wurde. Hatte er Glück und blieb am Leben, wurde er in den Strafblock verlegt und mit dem Fluchtpunkt gekennzeichnet. Seit dem Fall Beimler war lange Jahre kein Fluchtversuch geglückt. Erst seit dem Jahr 1943, als die Häftlinge an verschiedenen Orten in Bayern und Österreich arbeiteten, wo sich keine so strenge Bewachung wie in Dachau durchführen ließ, nahmen die Fluchtversuche rapide zu, und einige hatten Erfolg. Die Lagerleitung sah sich damals schon gezwungen, auf Repressalien zuverzichten, die die Lagerinsassen von der Arbeit ferngehalten hätten.
77 Marsalek, a.a.O., S. 166.
Marsalek bemerkt dazu, er habe nach einer
unvollständigen Dokumentation festgestellt, dass
es sich um mindestens 704 Erschießungen
handelte.
78 Die Haare wurden am
Samstag und Sonntag geschoren. Dabei entfielen
100-150 Personen auf einen
Haarschneideapparat, und so konnte es
geschehen, dass jemand, der sich erst im
letzten Moment zum Kahlscheren einfand, nicht
mehr an die Reihe kam. Beim Abnehmen der
Mützen beim Appell unterschied sich der
Betreffende dann deutlich von den frisch
Geschorenen.
79 Ich führe hier keine genauen Zahlen der
Opfer an, da sich die Angaben in den
Erinnerungsberichten unterscheiden.
Herangezogen werden vor allem die Erinnerungen
von Feuerbach (a.a.O., S.15), Neff (Recht oder
Unrecht. Manuskript, S. 7 f.), Müller (Einer
war geflohen. Mitteilungsblatt, Dezember
1966), Erwin Gostner (1000 Tage im KZ. Ein
Erlebnisbericht aus den Konzentrationslagern
Dachau, Mauthausen und Gusen. Innsbruck 1945)
und Hans Winter (Die Nacht in Dachau vom 19.
zum 20. Januar 1939. In: Kampf, Widerstand,
Verfolgung der sudetendeutschen
Sozialdemokraten. Dokumentation der deutschen
Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakei im
Kampf gegen Henlein und Hitler. Bearbeitet von
Adolf Hasenöhrl, Stuttgart 1983, S.49).
80 Müller, S. 8.
81 Richtlinien (des Chefs
des Amtes WVHA-D-I) "zur Bekanntgabe an die
Leiterder politischen Abteilungen bei der
Besprechung am 23. März 1944". DA-1527/do.
82 Kozlowiecki, Adam: Ucisk i strapienie.
Pamiatnikwieznia 1939-1945. Krakow 1967,
S.277.
Quelle: Stanislav Zamecnik, Das war Dachau, Luxemburg 2002, S. 129-131
Frage:
Stimmt es, dass es einigen Häftlingen gelungen ist, aus dem Konzentrationslager Dachau zu entkommen?
Antwort:
Bis 1939 waren Fluchtversuche sehr selten, jede erfolgreiche Flucht musste direkt an Himmler und an die IKL [Inspektion der Konzentrationslager] weitergemeldet werden. Der einzige Fluchtversuch aus dem Dachauer Hauptlager, bei dem der Flüchtige nicht wieder gefasst werden konnte, gelang Hans Beimler 1933. Unter dem KZ-Kommandanten Hans Loritz (1936-1939) gab es zwei Fälle, in denen Häftlinge geflohen sind, aber wieder gefasst wurden: der Münchner Mathias Neumeyer 1937, und der gebürtige St. Gallener Louis Übrig 1939. In den späteren Kriegsjahren gab es mehr Fluchtfälle, diese ereigneten sich auf Außenkommandos und in den Außenlagern des KZ Dachau. In der Häftlings-Datenbank im Archiv der KZ-Gedenkstätte finden sich insgesamt 582 Einträge mit dem Hinweis, der Gefangene sei geflohen, es lässt sich aber nicht in jedem Fall klären, ob die Flüchtigen wieder gefasst wurden.
Zwei weitere Ausbrüche aus dem KZ Dachau, die von einer größeren historischen Bedeutung waren, fanden kurz vor der Befreiung des Lagers statt: einer Gruppe von 15 KZ-Häftlingen gelang es, am 27. April 1945 zu fliehen. Die Häftlinge schlossen sich den Dachauer Widerständlern an, die am 28. April 1945 das Rathaus in Dachau besetzten, um eine friedliche Übergabe der Stadt an die US-Army zu erreichen. SS-Angehörige schlugen den Aufstand blutig nieder. Die zweite Flucht gelang schon am 28. April 1945 dem KZ-Häftling Karl Riemer. Er konnte sich bis zum 29. April 1945 nach Pfaffenhofen durchschlagen. Dort informierte er die US-Army, um eine schnelle Befreiung des Konzentrationslagers zu erreichen.
Gesondert zu betrachten sind die von der SS inszenierten Fluchtversuche. So gibt es schon unter den frühen Toten im KZ Dachau und vor allem dann in den Jahren 1941/42 zahlreiche Häftlinge, die angeblich auf der Flucht erschossen wurden, in Wahrheit aber von den SS-Wachen gezielt ermordet worden waren.