Junge Griechen
Dimitrios Sotiriadis
"lch heiße Dimitrios Sotiriadis und bin 1924 in einem Dorf in den
Bergen in der Nähe von Joannina geboren. Als ich 1942 verhaftet wurde,
ging ich noch aufs Gymnasium, in die letzte Klasse. Schon ein Jahr
lang war Joannina italienisches Besatzungsgebiet. Die Deutschen hatten
den ganzen Epirus ihren Bundesgenossen, den Italienern, überlassen.
Deshalb waren auch in meinem Gymnasium schon bald viele Schüler im
Widerstand organisiert, sie traten der EAM bei. EAM - das ist die
Abkürzung für ,Nationale Befreiungsfront'. Wir nannten uns daher
einfach EAM-Jugend. Das war im September 1941."
„Wir nahmen das alles nicht so genau und haben wohl auch nicht gut
aufgepasst. So fiel den Italienern eines Tages eines unserer
Flugblätter in die Hände. Es ging sofort los. Sie schnappten einen
nach dem anderen, und wir fraßen Holz - will sagen: wir wurden von den
Carabinieri schwer geschlagen."
"Was haben Sie sonst noch in Ihrer Gruppe gemacht? Nur Flugblätter
verteilt?"
Sotiriadis holt tief Luft, schaut mich geduldig an und erklärt: "Es
ging vor allem um die Lebensmittelversorgung. Oder genauer gesagt: um
den Hunger. Das kannst Du Dir vielleicht nicht vorstellen, aber die
Leute hatten nichts zu beißen. Eine schwierige Situation. Auch in der
Schule gab es kein anderes Thema. Also forderten wir Schulspeisung und
Heizmaterial. Es war Winter, und der ist hier oft sehr kalt. Jeder war
betroffen. Das schrieben wir in unsere Flugblätter, denn das
interessierte ja nicht nur uns Schüler, sondern alle Leute in der
Stadt. Die Ernährungslage war katastrophal. Die Menschen hungerten. "
"Aber was außer dem Verteilen von Flugblättern hat Ihre Gruppe
gemacht?"
Er grinst verschmitzt: "Wir malten Parolen an die Hauswände."
"Was genau? Erinnern Sie sich?"
"Natürlich! Wir pinselten mit roter Farbe: ,Volksspeisung!' oder: ,Es
lebe die EAM!'. Damals war die EAM noch nicht bekannt. Also schrieben
wir: ,Brot für das Volk! EAM' oder so ähnlich. Selbstverständlich nur
nachts: Einer malte, die beiden anderen standen Schmiere."
"Wie alt waren Sie?" "Siebzehn. "
"Aber warum wurden Sie verhaftet? Beim Schreiben der Parolen? Oder hat
Sie jemand verraten?"
Sotiriadis zögert. Schließlich sagt er: "Ich habe dir ja schon
erklärt, wie die Sache funktionierte: Jeder kennt nur die eigene
Gruppe. Vielleicht kannte er noch den einen oder anderen, der auch
,dabei' war. Aber offiziell wußte er nichts von den anderen. Er durfte
es auch gar nicht wissen. Das war eine Vorsichtsmaßnahme."
"Und warum sind Sie dennoch geschnappt worden?"
Er seufzt: "Es war ein Spitzel, der für die Italiener arbeitete.
Allein in meiner Klasse wurden damals zehn Schüler verhaftet."
Sotiriadis wurde am 18. Mai 1942 festgenommen. Zunächst war er in der
von den Italienern benutzten griechischen Festung von Prevesa
inhaftiert; anschließend wurde er in ein Lager in Süditalien
verschleppt. Nach etwa einem halben Jahr wurde er in ein abgelegenes
Bergdorf in der Toskana, Bagni di Casciana, verbannt. Nach dem
Frontwechsel Italiens im September 1943 wurde Italien von deutschen
Truppen besetzt und Sotiriadis verhaftet.
"Wie ging das vor sich?"
"Ach, zunächst waren sie ganz höflich: ‘Ihnen passiert gar nichts.
Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wir bringen Sie zu Ihren
Einsatzarten. Es sind nur leichte Arbeiten, die Sie zu machen haben!'
So redeten sie. In Bussen fuhren sie uns nach Florenz. Dort sah es
dann aber schon ganz anders aus. Sie fuhren uns in die Caserma dei
paracadutisti, die Fallschirmjäger-Kaserne. Da saßen wir in der Falle:
ringsum Mauern, Stacheldraht und Wachen mit Maschinenpistolen. Von der
Kaserne ging es direkt zur Eisenbahn. Die Waggons wurden von außen
abgeschlossen und - ab nach Deutschland. Sie haben es nicht dumm
angestellt: zuerst ganz freundlich, am Ende Dachau. "
"Hat denn niemand versucht zu fliehen?"
"Nur einer war so schlau zu türmen und hat sich in Bagni di Casciana
versteckt. Ein anderer war schon ein paar Tage vorher abgehauen mit
einer italienischen Freundin. Sie brachte ihn nach Florenz. Dort
gelang es ihm unterzutauchen. Nur diese beiden haben es geschafft.
Alle andern saßen in Viehwaggons und fuhren nach Norden. Der Zug hielt
erst wieder in Villach. Nach zwei Tagen. Wir haben bis dahin weder zu
essen noch zu trinken bekommen. "
"Wie bitte? Zwei Tage ohne zu trinken?"
"Nichts! Gar nichts! Erst im Kriegsgefangenenlager in Markt Pongau
kriegten wir was. Dort blieben wir ein paar Tage, und von dort ging es
weiter nach Dachau. "
"Wer war noch im Zug? Nur Griechen?"
"Nein. Die meisten waren Italiener, Soldaten, die sie gerade erst
eingefangen hatten. Dazu noch ein paar italienische Zivilisten. Wir
Griechen waren nur 32 Mann. In Dachau musstest du schon am
Lagereingang alles abliefern: deine Sachen, deinen Namen, deine
Identität. Ich war nur noch ,siebenundfünfzig sieben neununddreißig'.
Das war meine Lagernummer. Alles andere weg. Mehr ist mir nicht
geblieben."
"Wie viele Griechen wart ihr in Dachau?"
"Vielleicht 200 oder 220 Mann, darunter etwa 70 ,Politische'. Die
anderen waren sogenannte ,Zivilarbeiter' und hatten sich freiwillig
nach Deutschland gemeldet, sind dann aber wegen irgendwelcher
Vergehen, ,Sabotage' oder schlechter Arbeit, nach Dachau gebracht
worden. Zur ,Arbeitserziehung'."
"Was geschah am ersten Tag in Dachau? Erinnern Sie sich?" "Wir kamen
gegen Mitternacht an. Sie ließen uns die ganze Nacht über draußen in
einer Ecke des Appellplatzes stehen. Wir klapperten mit den Zähnen und
stampften mit den Füßen, um uns etwas warm zu machen. Aber das half
nicht viel. Es war Oktober, schon sehr kalt, und wir froren. Aber das
war noch gar nichts. Das ging ja vorbei. Danach fing die ganze
Quälerei erst richtig an. Als sie morgens um fünf Uhr erschienen,
mussten wir zur Entlausung, unsere Kleider abgeben und die Lagerkluft
anziehen.
Wir nannten sie unsere Irrenkleider: blau-weiß gestreifteJacken und
Hosen. Das wurde bei uns auch in den geschlossenen Anstalten getragen.
Über der Brusttasche die Nummer und ein roter Winkel- das Zeichen für
die ,Politischen'. Dazu noch ein Buchstabe für die Nationalität, also
ein ,G' für Grieche, mit schwarzer Tusche in das rote Dreieck
geschrieben.
Nach der Ausgabe der Irrenkkleider mussten wir auf die .Blocks', so
nannten sie die Baracken. In ihrer Machart waren die gar nicht so
schlecht und als Unterkünfte an sich nicht ungeeignet. Das Schlimme
war nur, dass sie in eine Hundert-Mann-Stube vierhundert Mann
einpferchten. Wir lagen wie Ölsardinen in der Dose. Und alles voller
Läuse; die übertrugen die verschiedensten Krankheiten, vor allem
Typhus. Zu essen bekamen wir kaum etwas und mussten doch schwer
arbeiten, man sollte schnell krank werden. Vernichtung durch Arbeit,
Abgang durch Tod."
Sotiriadis macht eine lange Pause und schaut mich verloren an, als
zweifele er, ob ich ihn verstanden habe. Ich frage: "Wie sah so ein
Tag in Dachau aus?"
"Ich arbeitete im ,Zuschneiderei-Kommando', in einer Fabrik außerhalb
des Lagers. Auch andere Kommandos waren draußen in der Nähe des Lagers
eingesetzt. Rings um das KZ befanden sich verschiedene Fabriken. Jeder
musste arbeiten. Solange die Leute Kraft hatten, wurden sie
ausgequetscht, danach: ab ins Krematorium.
Mein Kommando musste immer nachts in die Fabrik. Wir fingen um fünf
Uhr nachmittags an, bis um sechs Uhr in der Frühe. Tagsüber standen
Frauen an den Maschinen. Das waren keine Häftlinge, sondern normale
Arbeiterinnen. Nach dem Ende ihrer Schicht kamen wir dran. Wir mussten
Uniformen nähen für die Wehrmacht. Wir nannten die Fabrik auch
,Laus-Betrieb', weil wir dort regelmäßig unsere ,Laus-Kontrolle'
veranstalteten. Wir sammelten Läuse und schmuggelten sie in die Pakete
mit den fertigen Uniformen. Einmal probierten wir aus, wie lange Läuse
unter Null Grad überleben können. Wir vergruben sie in einem
Fläschchen im Schnee. Erst nach zehn Tagen holten wir sie wieder
heraus. Kaum hatten die sich ein wenig aufgewärmt, krabbelten sie
schon wieder herum. Im Lager gab es mehrfach Typhus-Epidemien. Wir
waren überzeugt, nicht mehr lebend aus dem Lager herauszukommen.
Sabotage war also das einzige, was für uns noch in Frage kam.
Die ,Laus-Kontrolle' war aber noch nicht alles. Manchmal beschädigten
wir auch die Maschinen, zum Beispiel schnitten wir einen Treibriemen
an oder lösten eine Schraube. In unserer Halle standen insgesamt 18
große Maschinen. Auf jeder wurde ein anderes Teil der Uniform
gefertigt, ein arbeitsteiliges und ausgeklügeltes System. Die letzte
Maschine war eine ziemlich große Presse, welche die Pakete schnürte.
Hier setzten wir unsere Läuse aus."
Wieder eine lange Pause: "Warum glaubtet ihr, keine Chance zum
Überleben zu haben? Es gab doch auch Entlassungen aus dem Lager."
"Aber nicht für uns! Außerdem wussten wir genau, was Sache war. Wir
brauchten uns doch nur anzuschauen. Wie wir aussahen! Völlig
abgemagert. Erst 40, dann vielleicht noch 35 Kilo. Da war bald
Feierabend. Das spürt man. "
"Kam die ,Laus-Kontrolle' jemals heraus?"
Sotiridis schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken:
"Mmmbbaahh! Das hat keiner gemerkt. An der Front hatten die doch
selber Läuse. Und Desinfektion gab es da keine. Ob unsere Läuse
irgendeine Wirkung hatten, wussten wir nicht. Wir nannten das deshalb
auch nur unsere Witz-Sabotage."
Ich wechsele das Thema. "Hattet ihr Kontakt nach Hause?
Durftet ihr Briefe schreiben?"
"An sich war das Schreiben erlaubt. Die Schwierigkeit war aber: Du
durftest die Post nur in das Land senden, wo sie dich gegriffen
hatten. Wir Griechen waren in Italien gefangen genommen worden. Bei
der Briefkontrolle schauten sie als erstes: ,Wo kommt der Mann her?
Aus Italien! Und der schreibt nach Griechenland? Zurück!' Der Brief
wurde nicht befördert. Erst später, als Griechen in Dachau eintrafen,
die bereits in Griechenland verhaftet worden waren, konnten wir uns
mit ihnen absprechen. So gingen schließlich auch von uns Nachrichten
nach Hause, und ich konnte einen Brief schicken."
"Haben Ihre Eltern diesen Brief erhalten? Wußten sie, wo Sie waren?"
Mein Vater hat es nicht mehr erfahren. Genau am Tag, als er starb,
traf mein Brief aus Dachau ein. Es war der 29. April 1944, für mich
ein besonderer Tag, denn genau ein Jahr später, auch am 29. April,
wurden wir in Dachau befreit. Meine Familie erhielt bis dahin keine
Nachricht mehr von mir. Die Deutschen waren zwar schon im Oktober 1944
aus Joannina abgezogen, aber schreiben konnte man nun erst recht nicht
mehr. Die Briefe hätten ja über die Front gehen müssen."
Oriadis zuckt resigniert die Schultern. Er ist zusammengesunken hinter
dem großen Schreibtisch und schweigt. Ich suche ach einem weniger
bedrückenden Thema: "Und jene Frauen, die tagsüber in der Fabrik
arbeiteten - haben Sie von denen irgend etwas mitbekommen?"
"Nein, nie. Aber ich erinnere mich an die letzte Nacht vor der
Befreiung. Die Frauen waren schon zwei oder drei Tage nicht mehr zur
Arbeit erschienen. Nur die Vorarbeiter hatten ich noch nicht aus dem
Staub gemacht. Sie gaben uns Mantelfutter aus Lamawolle, das wir -
immer zwei oder drei Stück als Decken zusammennähen sollten.
Vermutlich für ihre Flucht. Vielleicht wollten sie in die
,Alpenfestung‘ gehen. In den Bergen war es im April ja noch kalt. Als
wir die Decken fertig hatten, befahlen sie: ,Schluß jetzt! Schlagt die
Maschinen kaputt!' Das taten wir aber nicht. Die hatten solche Eile
wegzukommen, dass sie nichts weiter sagten und einfach verschwanden."
"Ich fragte nach den Frauen, weil ich gehört habe, dass Zivilisten
manchmal den Gefangenen geholfen haben. Fanden Sie jemals etwas
Essbares bei den Maschinen, was jemand dort liegengelassen hatte:
vielleicht eine Kartoffel oder ein Stück Brot?"
"Nichts war da! Niemals! Wenn die was übrig gehabt hätten ... sie
hätten das wahrscheinlich lieber weggeworfen, als es uns zu geben. Wir
waren doch Verbrecher! Untermenschen! Jedenfalls haben wir nie etwas
zusätzlich erhalten. Von niemandem. Und nur selten gelang es uns,
selber etwas zu organisieren."
„Wann sind Sie wieder bei Ihrer Familie gewesen?“
„Am 20. September 1945.“
„Und wen trafen Sie an?“
„Nur meine Mutter und meinen Bruder. Mein Vater war [...] schon vor
über einem Jahr gestorben.“
Christoph U. Schminck-Gustavus, Der blaue Mantel. Von Dachau nach Sibirien - Zeugnisse griechischer KZ-Häftlinge 1943-1993, Bremen 2008